Ich bin dann mal raus ... ein Erfahrungsbericht

Ich bin dann mal raus ... ein Erfahrungsbericht

February 24, 2017

Mein aktueller Stand auf XING ist "Freelancer". Und vermutlich wird dieser Status auch so bleiben, denn ich habe keine Lust mehr. Ich habe keine Lust mehr meine Zeit für Unternehmen zu investieren, die zwar meinen Lebenslauf superinteressant und spannend finden, aber dann nicht in der Lage sind flexibel auf mich als Bewerber einzugehen. Ich habe mich auf Jobs beworben bzw. wurden mir angeboten, teilweise mit einer Übereinstimmung von mehr als 85 % auf mein Profil. Das ich keine 35 bin, zeigte ich dabei stets offen.

Ich erwarte von Recruitern, die meinen Lebenslauf als spannend erachten, auch in der Lage sind zumindest die großen Brüche zu lesen. Wieso muss ich Scheitern oder Uneinigkeiten mit früheren Arbeitgebern in Blumen packen? "Sie haben für mich nicht nachvollziehbare Entscheidungen getroffen". Wo liegt die Schwierigkeit nachzuvollziehen, dass man bspw. nicht weiter die finanzielle Verantwortung für ein Team übernehmen möchte, wenn man während der letzten Wirtschaftskrise knapp einer Insolvenz entgangen ist? Mein Lebenslauf ist deswegen so vielfältig und spannend, da er 25 Jahre Berufserfahrung umfasst und mutige, außergewöhnliche Wechsel und Entscheidungen beinhaltet. Das ist in "mindestens 2 Jahre Berufserfahrung" nicht zu stemmen und es ist auch nicht mit dem Gehalt eines Einsteigers zu bezahlen (und das ist man mit 2 Jahren Berufserfahrung immer noch).

Was Unternehmen erwarten? Bitte habe auf jede Frage eine passende, möglichst angepasste Antwort parat, die mir zeigt das du auf XING den kleinen "Bewerbungsknigge" und sonst noch was gelesen hast und smart und nun ja, eben angepasst bist. Zeige bitte auch keine Emotionen.

Warum so wenig Frauen mit Kindern diese Positionen angeboten bekommen, bzw. am Ende dann auch beziehen? Die haben nämlich schlichtweg keine Zeit sich mit "Die-10-schlimmsten-Fettnäpfchen-beim-Bewerbungsgespräch" zu befassen. Dafür kann ich euch aber garantieren, dass sie organisatorisch Top sind und hocheffizient für dein Unternehmen arbeiten. Schließlich haben sie noch ein zweites "Unternehmen", dass sie "nebenbei" managen. Für Sie getestet. Im eigenen Unternehmen mit Führungspositionen und einer familienfreundlichen 4-Tage-Woche. Ach ja Info an alle Frauen die sich gerade im Bewerbungsprozess befinden: Ihr könnt mich gerne nach den Fettnäpfchen fragen. Ich habe jedes einzelne davon persönlich ausprobiert. Vielleicht schreibe ich bei Gelegenheit darüber.

Gesucht werden agile und flexible Menschen. Finde ich die, wenn ich mich mit geschliffenen Standard-Antworten zufrieden gebe? Das glaube ich nicht. Bitte mehr Mut zu Lücke! Wenn der Bewerber nicht gleich die KPIs oder die neuesten hippen Paymentsysteme aufzählen kann, fragt ihn wie er das kurzfristig herausfinden kann. Darauf kommt es doch an! Und merke: Keiner kann alles, manche können nur besser über Lücken hinwegtäuschen.

Ist man im Online-Bereich unterwegs, MUSS man sich stetig neu positionieren. Es gehört dazu sich ständig zu fragen, in welche Richtung entwickeln sich die Märkte und die Zugänge zu diesen. Und es gehört auch dazu seine Fähigkeiten dem aktuellen Wachstum und Begebenheit des Produkt-und Markenumfeldes flexibel anzupassen. Das zahlt letztendlich auch auf die Position ein, die es in eurem Unternehmen zu besetzen gilt. Selbst wenn der Bewerber die Anforderungen nicht 100% abdeckt, legt doch bitte in bißchen mehr Vertrauen in die Agilität und in die Flexibilität des Bewerbers. Vergesst die größtmögliche Übereinstimmung mit euren Anforderungen. Hier ist doch keine Bereicherung oder Veränderung zu erwarten! Diese Vorgehensweise entspricht dem tradierten Bild und Mustervorstellung eine HR Bereichs von gestern!

Und noch was! Es reicht mir OHNE ENDE. Es mag ja sein, dass mein Auftreten und vielleicht auch mein Äußeres nicht dem optimalen und optimierten und es-fallen-mir-jetzt-keine-worte-mehr-dafür-ein entspricht. Ja, ich trage nicht Größe 38 und meine Fingernägel sind nicht lackiert. Aber, ey! Ich habe über 20 Jahre Berufserfahrung, habe ein Kind großgezogen, habe mich nebenberuflich immer weitergebildet und bin farbig, kreativ, witzig und spannend - das sage ich jetzt mal ganz arrogant, den ich habe genug Langeweiler kennengelernt die ihren Job genauso erfüllen, mit Langeweile, Routine und bitte bloß nichts Neues. Wie wollt ihr denn Diversität in euer Unternehmen bekommen, wenn am Ende alle gleichen Alters und ähnlichen Typs sind. Vergesst es einfach und bitte benutzt das Wort "Vielfalt" nicht mehr in euren ach so vielversprechenden Firmenpräsentationen.

Dann habt den Mut, neben dem smarten, austherapierten Managertyp der so nice auf alles eine Antwort parat hat (da schon unzählige Selbstoptimierungs-Trainings, -Fortbildungen mit Kammerlander, Höllerer und wie sie alle heißen) jemand ungeschliffenen, spontanen, der vielleicht auch "nicht immer seiner Seniorität entsprechend agiert" ins Team aufzunehmen. Ich liebe diese Formulierung zwischenzeitlich, auch wenn sie mich einst sehr verletzte und ich den Autor seinerzeit da hin wünschte wo der Pfeffer wächst (wo er leider schon war und schön soll's da außerdem auch noch sein ... ). Heute fühle ich mich dadurch geadelt. Den nur durch Frauen mit Kindern in verantwortungsvollen Positionen, lernen auch die "Jungen", dass es andere, abweichende Wege gibt.

Und sorry das ich euch das jetzt so unverblümt und frech sage: auch ihr werdet alle älter. Dies ist vor allem adressiert an alle weiblichen jungen HR-Recruiterinnen, die sich erst noch durch die gläserne Decke und das Thema Vereinbarkeit Familie und Beruf durchbeißen müssen. Ich wünsche euch viel Spaß und Erfolg bei eurer persönlichen Weiterentwicklung und beim ständigen Dauerspagat. Aber keine Panik wenn ihr an die gläserne Decke stoßt: Nach unten geht es immer.

Ach, was hättet ihr von mir profitieren können: Ihr hättet mich fragen können "wie hast den du das eigentlich gemacht?" Und ich hätte euch von der Hoffnungslosigkeit erzählt, aber auch von der Stärke und den Willen den Frauen (oftmals auch gemeinsam) entwickeln um das ganze durchzustehen. Hier entstehen Freundschaften für's Leben. Fragt jetzt doch bitte eure Kollegen bzw. deren Frauen, die ihren Männern auch 2017 noch den Rücken freihalten (schließlich muss der Mann doch unbedingt am Wochenende auch noch auf den Marathon trainieren, muss er doch ... oder nicht?). Lehnt euch, wenn ihr selbst Kinder habt, entspannt zurück und bastelt saisonale Dekoration für euer "Schöner Wohnen"- Zuhause, bis ihr irgendwann (wenn die Kids soweit sind) zugunsten einer jüngeren verlassen werdet. Beispiele? Schaut euch in der männlichen Führungsriege eures Unternehmens um.

Laut der aktuellen OECD Studie*1 arbeiten in DE 70% der Mütter. Davon arbeiten knapp 30% in Vollzeit. Meine Vermutung ist: Schaue ich mir die 29,9% der Vollzeit berufstätigen Mütter an, arbeiten davon maximal 5% in einer leitenden Position. Das ist allerdings eine reine Vermutung meinerseits, da ich in der Studie keine Zahlen darüber gefunden habe. Eine Mutter in leitender Position in einer Vollzeitanstellung anzutreffen, ist also vermutlich genauso selten wie ein Löwenrudel bei einer Safari oder einen stinkenden Titanwurz blühen zu sehen.

Wenn eure Mitarbeiter zwar international, interkulturell bestens aufgestellt sind, (da Auslands-studium und -erfahrung) ist es doch wieder eine homogene nicht-diversive Masse, die alle anderen die diesen Backround nicht haben, ganz gerne mal ausgrenzt. Und da spreche ich jetzt mal aus Erfahrung. Wenn sich z.B. zwei Kollegen, beide deutsche Muttersprachler, auf dem Flur in Englisch unterhalten (in einem Unternehmen in dem überwiegend Deutsch gesprochen wird) ist das ... nun wie soll ich sagen ... gewöhnungsbedürftig bis ... hmmm bescheuert. Und hier fängt Ausgrenzung an.

Was ich in meiner jahrzehntelangen Berufserfahrung gelernt habe: JEDER ist ersetzbar. IMMER und JEDERZEIT. Also fragt doch nicht vorher, ob ich für euer Unternehmen brenne, sondern sorgt ihr dafür das es so ist und das ich mich wirklich schlecht fühle, wenn es nicht gut läuft. Was für ein Quatsch vorab ein Leuchten in den Augen zu sehen. Das ist vielleicht bei Anfängern so, der Rest spielt das nur oder ihr habt wirklich ein Hammerprodukt/Dienstleistung. Meine Augen fangen an zu leuchten wenn ihr mir von flexiblen Arbeitszeiten, Homeoffice und Mitarbeitervertrauen erzählt. Witzig übrigens: Euer Leuchten in den Augen erlosch, wenn ich danach fragte. Sucht ihr eine Lampe, Schauspieler oder kompetente Mitarbeiter?

Es ist einige Jahre her, da habe ich mit einer Kollegin zwei Auszubildenden gesucht. Einen Fachinformatiker und einen Webdesigner. Wir haben uns für zwei Azubis entschieden, die von anderen Unternehmen (vermutlich) nicht in Betracht gezogen worden wären. Der Webdesigner, ein Party-It-Girl der besten Klasse. Der Gedanke an die Bilder die ich von ihm in den sozialen Netzwerken gefunden habe, amüsiert mich noch heute (... ohne weiter Details zu nennen: Netzstrumpfhosen, auffallend große trichterförmige Zigarette, umgeben von Mädels und alle mit roten-Augen-Effekt ...). Der andere introvertiert, noch nichts zu Ende gebracht, bereits etwas älter. Zwischen den Zeilen konnte man aber lesen, dass er hauptsächlich Probleme hatte, da er NICHT angepasst war und auf Korrektheit bestanden hat. Beide haben ihre Ausbildung erfolgreich absolviert. Der eine mit ca. 700 Dosen Redbull, der andere mit unendlichen (zugegebenermaßen auch manchmal nervenden) Diskussionen mit Vorgesetzten, Kollegen, etc.. . Ich bin heute noch auf beide unheimlich stolz. Auf den Weg den sie gemeistert haben und das sie sich treu geblieben sind. Ich muss jetzt nicht erwähnen, dass die beiden ÜBERHAUPT nicht miteinander konnten, oder? Eben weil sie komplett verschieden waren, aber das gehört dazu und auch daran kann man wachsen.

Bewerbungsgespräche 2017 fühlen sich für mich an wie der "brave Knicks" den sich meine 1905 geborene Großtante bei jedem Besuch von mir wünschte. Bei Bewerbungen, die eigentlich auf Augenhöhe stattfinden sollten, habe ich darauf keine Lust mehr.

Dieser Text ist einem Recruiter aus Berlin gewidmet , mit dem ich zum einen das digitalisierteste aber auch das freundlichste Gespräch hatte. Ich hatte zumindest das Gefühl das er bedauert, dass ich im Bewerbungsprozess nicht weiter gekommen bin. Und alleine die Vermittlung dieses Gefühls hat mir gut getan und mich froh gemacht, zumal er es mir persönlich, telefonisch mitgeteilt hat. Dafür ein dickes Danke! So manch anderes Unternehmen hat es nicht einmal geschafft eine persönliche Absage zu schicken, selbst wenn ein oder mehrere Gespräche vor Ort stattgefunden haben.

Liebe HR'ler. Ich bin ja jetzt selbständig und somit raus aus dem Bewerbungs-tam-tam. Wenn ihr Bedarf bei kreativer Weiterentwicklung eurer Einstellungs- oder Absageroutine habt, stehe ich euch gerne zur Verfügung. Und fangt bitte damit an, dass ihr meinen Lebenslauf nicht mehr als "superinteressant" und "spannend" bezeichnet. Das weiß ich selbst und ich bin auf jede einzelne Position und Tätigkeit mächtig stolz, auch wenn es manchmal nicht so gelaufen ist wie geplant. Aber auch das gehört dazu.

Es grüßt euch
Gabriele

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